Viele Leute nehmen an, ich sei in der SP, da ich ja im P.S. Kolumnen schreibe, oder in der AL, da man mich oft an Punkkonzerten antrifft, oder dann aber doch bei den Grünen. Dass ich das alles nicht bin, hängt wohl auch damit zusammen, dass ich mich nicht für die eine oder andere Partei entscheiden könnte; gewiss aber ist es eine Folge meiner Frustration über die Realpolitik. Die Leute spinnen ja auch: Etwa zwei Drittel leben in Mietwohnungen, trotzdem stimmen und wählen sie konsequent mieter:innenfeindlich. Je tiefer der Lohn, desto eher wählen sie die Parteien der Reichen. Sie sind überzeugt, dass sich Leistung lohnen müsse, wollen aber stets die Arbeit besteuern und leistungsfreie Einkommen wie Kapitalgewinne oder Erbschaften entlasten. Wie kann man Realpolitik machen angesichts einer Bevölkerung, die konsequent gegen ihre eigenen Interessen stimmt?
Ja, die Politik ist mir ein Rätsel. Typen wie Trump, Bolsonaro, Orban oder Berlusconi kamen auf demokratischem Weg an die Macht. Gäbe es in Russland heute freie Wahlen, Putin würde wohl wiedergewählt. Die Kombination von Reichtum, Narzissmus, Rücksichtslosigkeit und «Wir gegen alle»-Rhetorik scheint eine besondere Faszination auf Wähler:innen auszuüben. Möglicherweise ist dies so eine Art Geheimrezept des Kapitalismus gegen die Demokratie?
Wobei, der Kapitalismus braucht ja gar kein Geheimrezept. Frankreich hat einen Rothschild-Banker zum Präsidenten gewählt, die Schweiz einen Erdöl-Lobbyisten zum Energieminister. Der Kapitalismus muss die Demokratie nicht fürchten, solange sie ihm aus der Hand frisst. Er macht das aber auch gut: Er gibt uns das Gefühl, an ihm teilhaben zu können – es steht an jeder Wand: Auch du kannst im Internet Aktien und Fonds handeln und ein paar Franken Gewinn damit machen (wer verliert, hat halt falsch investiert). Auch du kannst Anteile an «Rendite-Immobilien» erwerben (und damit deine eigene Wohnung verteuern). Ein immer grösseres Auto: erschwinglich schon ab mittleren Einkommen (bei tiefem Einkommen hilft der Konsumkredit vom Plakat daneben). Und wenn du dir das alles partout nicht leisten kannst, weisst du doch insgeheim, dass du eigentlich ein Recht darauf hast – und irgendwann wirst auch du zu den Gewinnern gehören!
Was lässt sich dieser Verheissung entgegensetzen, aus linker Sicht? Mir fehlt ein alternatives Versprechen. Eine visionäre, positive Vorstellung von einer Gesellschaft, in der alle zu den Gewinner:innen gehören und nicht nur die Reichen, die Rücksichtslosen und ein paar Glückspilze. Die Lücke, die durch das Verschwinden des autoritären Sozialismus des letzten Jahrhunderts entstanden ist, konnten wir Linken seither noch nicht füllen. Statt über die Beschränkung des Eigentums an Grund und Boden zu diskutieren, fordern wir die Formularpflicht im Mietwesen; statt Konzepte für die Abkoppelung der Wirtschaft vom globalen Finanzmarkt zu erarbeiten, reiben wir uns in Abwehrkämpfen gegen die Senkung von Unternehmenssteuern auf.
Man verstehe mich nicht falsch: Ich habe höchste Achtung vor den Leuten, die die Realpolitik betreiben. Die ihre Zeit und Energie investieren, um da einen besseren Veloweg, dort etwas mehr Rente für die Pensionierten zu erstreiten. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne dieses Engagement aussähe. Aber eine gemeinsame Vision, wo wir hin wollen, wäre schon motivierend.
Dieser Text erschien am 24. Februar 2023 im P.S., www.pszeitung.ch.