In der Berner Szenebeiz Brasserie Lorraine wurde das Konzert einer Mundart-Reggaeband abgebrochen, weil sich im Publikum einige Leute «unwohl fühlten» angesichts des Umstands, dass weisse Schweizer:innen Dreadlocks und Kleider afrikanischen Schnitts trugen und, eben, Reggae spielten. Bereits vor einigen Monaten war die Musikerin Ronja Maltzahn wegen ihrer Dreadlocks von einer Kundgebung von «Fridays for Future» ausgeladen worden.
Leider wissen wir nicht, was für Leute das waren, die sich ob der kulturellen Aneignung unwohl fühlten. Waren es jamaikanisch- oder afrikanischstämmige Rastafarianer:innen oder doch eher weisse Wohlstandskids? Wenn Letzteres, dann trugen sie doch hoffentlich keine Tätowierungen und Piercings? Nun, ich war nicht dabei und weiss es deshalb nicht. Womöglich waren es ja verkleidete Jung-SVPler:innen, die sich als «Agents Provocateurs» betätigten? Für rechte Kreise ist der Vorfall jedenfalls zweifellos ein Steilpass. Rassentrennung von links – etwas Besseres kann diesen Leuten gar nicht passieren.
Reggae ist daraus entstanden, dass Jamaikanische Musiker:innen amerikanische Popmusik spielten und diese in ihrer Weise neu phrasierten. Die amerikanische Popmusik wiederum ist aus vielerlei gegenseitigen Beeinflussungen schwarzer und weisser Musik entstanden – schwarze Bands verbanden die Musik europäischer Einwanderer:innen mit ihrer Tradition und machten daraus Jazz und Blues, weisse nahmen Jazz und Blues auf und machten daraus Rock ’n’ Roll. Wären in den letzten gut 100 Jahren diese kulturellen Aneignungen unterbunden worden (Rassentrennung war ja noch lange in Mode), dann gäbe es heute gar keinen Reggae, auch keinen Rock, Hip Hop oder Techno. Statt in der Disco würden wir uns bei der Stubete treffen und das Tanzbein schwingen zu einem lüpfigen Schottisch – oha, oder kommt der etwa aus Schottland? Dann besser zu einer Polka – oha zwei, das klingt irgendwie nach Polen…
«Musikgeschichte ist Kolonialgeschichte», wird Melanie Zwahlen vom Verein «Diversum» für rassismuskritisches Denken am 25.3.2022 auf srf.ch zitiert. Die unzulässige kulturelle Aneignung liege vor, wenn die Wertschätzung fehle. Etwa wenn Katy Perry ohne jeden Bezug zur japanischen Kultur im Geisha-Kostüm auftrete. Das leuchtet schon mal ein, schwierig scheint mir aber die Frage, welche Instanz das genügende Ausmass an Wertschätzung beurteilen solle. Die Reggaeband in der Brasserie jedenfalls hat vermutlich eine hohe Wertschätzung für den Reggae, seine Geschichte und seine Erfinder:innen.
In der ganzen Debatte fehlt mir die Frage, ob die Menschen, die der angeeigneten Kultur angehören, sich auch tatsächlich an der Aneignung stören. Wenn ich mir Videos von Auftritten des deutschen Reggaesängers Gentleman in Jamaika anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass die Leute dort ein Problem haben mit seiner Imitation ihrer Kultur; es sieht mir eher danach aus, als fänden sie es ziemlich cool, dass ein Dude aus Germany ihre Art von Musik spielt. Wenn sich dann doch einige Leute in der Reggae-Community daran stossen, ist das zwar bedauerlich und darf diskutiert werden, mehr aber auch nicht.
Sind es aber, wie wohl im aktuellen Fall, weisse Schweizer:innen, die sich zu Beschützer:innen afrikanischer Kultur erheben, dann ist das zumindest paternalistisch, wenn nicht gar genau dem kolonialen Habitus geschuldet, den sie zu kritisieren vorgeben.
Dieser Text erschien am 14. Oktober 2022 im P.S., www.pszeitung.ch.