Opfer

Fritz steigt aus der Dusche und greift zum Badetuch. Der Spiegel und die Fensterscheibe sind beschlagen; Fritz zieht sich den Tanga-Slip mit Leopardenmuster an und öffnet das Fenster. Vom Spielplatz her dringt Kinderlärm ins Badezimmer. «Jetzt mach mal, du Opfer!», hört Fritz. Auf der Rutsche sitzt das dicke Mädchen mit dem Kopftuch und traut sich anscheinend nicht weiter. «Runter, Runter», johlen die Kinder, die sich um die Rutsche versammelt haben. Das Mädchen rutscht runter und beginnt zu weinen.

«So ein Opfer», denkt Fritz, klopft sich vergnügt auf seinen stattlichen Bierbauch, sprüht Deo unter die Achseln und beginnt sich zu rasieren. Beim Thema Opfer fällt ihm sein Bruder ein. Der hat eben geheiratet. Die Kleine, Hässliche, mit der er schon im Kindergarten befreundet war. Hat keine Bessere gekriegt, das Opfer.

Fritz aber hat andere Pläne. Heute wird er seine Verlobte wiedersehen. Dunkelbraune Augen, tiefschwarzes Haar, zierlich, voller Po, und – boah! – die Oberweite kann er nur erahnen. Seine schwarze Perle. Er klatscht sich Rasierwasser auf Wangen und Hals und zieht sein bestes Hemd an, stellt sich dabei vor, wie sie es ihm wieder aufknöpft. Er wird sie heiraten, und alle seine Kumpels werden neidisch auf ihr Dekolleté schauen, die Opfer mit ihren farblosen Ehefrauen, die nichts als Streit suchen. Seine schwarze Perle. Sie wird kommen, sobald das Geld eintrifft, das er ihr überwiesen hat. Fritz setzt sich an den Computer und startet den Videochat.

Ein Gedanke zu „Opfer“

  1. Eine sehr gute Geschichte; ich wurde selbst Opfer eine Opfer – Bezeichnung eines Schülergartenkindes. Diesen als Diffamierung gedachten Ausspruch war letztes Jahr grosse Mode unter den Kindern. Darauf hielt ich dem Schüler eine Moralpredigt, gespickt mit „Opferdiffamierung ist Faschismus“ sodass der Schüler weinen musste und somit selbst Opfer seines ja nur modisch benutzen Jargons. Er bekam dann einen Mohrenkopf (ha ha, wirklich!) von mir und kein Schüler hat je wieder dieses Wort gebraucht. Die, die nicht wissen, dass sie Opfer sind sind wohl die grössten Opfer – Deine Geschichte – Bravo!

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