Richtig und Falsch

In diesen Corona-Zeiten zeigen so manche ein neues Gesicht. Auch geschätzte KumpelInnen, die sonst für das Wutbürgertum nur ein müdes Lächeln übrig haben, ziehen in den «sozialen» Medien plötzlich gehässig über all jene vom Leder, die ihre Ansichten nicht teilen. Es ist erstaunlich und betrüblich, wieviele Leute genau zu wissen meinen, was richtig und falsch ist. Tatsache ist aber: vorläufig weiss es niemand. Wir haben kaum Zahlen und kaum Vergleichswerte um einzuschätzen, was in den letzten Monaten mit uns passierte. Diejenigen, die Entscheidungen treffen, tun dies, ohne sich auf Erfahrungswerte stützen zu können. Man wird die Massnahmen erst im Nachhinein vergleichen, auswerten und beurteilen können. Aber auch dies wird uns nicht lehren, was richtig und falsch ist – die Pandemie konfrontiert uns als Gesellschaft mit Fragen, die sich uns früher oder später ohnehin gestellt hätten.

Ein Bekannter von mir hat eine Vorerkrankung, die ihn in die Super-Risikogruppe einteilt; eine Infektion mit dem Coronavirus wäre für ihn wohl tödlich. Weder er noch seine Partnerin haben in den letzten acht Wochen das Haus verlassen. Er wünscht sich, dass der Lockdown so lange anhält, bis ein Impfstoff verfügbar ist.

Eine andere Bekannte ist selbständig erwerbend. Sie kann zwar von zuhause aus arbeiten, hat aber kaum mehr Aufträge, da ihre Kundschaft hauptsächlich im Event- und Gastrobereich tätig ist. Dauern die Einschränkungen noch mehrere Monate an, wird sie pleitegehen – dann droht ihr der Absturz in die Sozialhilfe. Sie wünscht sich die schnellstmögliche Rückkehr zum Normalbetrieb.

Wer von beiden hat nun recht? – Beide! Die Frage ist gar nicht, wer recht hat; die Frage, die sich die Gesellschaft stellen muss ist vielmehr, wieviel sie bereit ist, für das Aufschieben des Sterbens zu investieren. Darauf kann es keine eindeutige Antwort geben, es ist eine Entscheidung. Und es ist keine Corona-Frage, sie folgt vielmehr aus der Entwicklung der Medizin: Stellen wir uns vor, es gäbe ein Medikament, das ein Kleinkind mit einer sehr seltenen tödlichen Krankheit retten könnte. Das Medikament kostet aber eine Milliarde Franken. Ist die Gesellschaft nun verpflichtet, die Therapie zu finanzieren? Nein? Und wenn das Medikament nun «nur» eine Million, hunderttausend, fünftausend Franken kostet? Wo ist die Grenze, wie hoch darf der Preis für ein Menschenleben sein? Und wenn die kranke Person kein Kleinkind ist, sondern siebzigjährig, ist es dann der gleiche Preis oder ein anderer?

Wir zeigen als Gesellschaft Solidarität. Wir verzichten eine Zeitlang auf Feste und auf Kultur. Wir nehmen sogar mehr Arbeitslosigkeit und den Ruin einer Anzahl Firmen in Kauf. Dies ist der Preis dafür, dass weniger von uns sterben. Der Preis für das Überleben der einen ist also der Verlust an Wohlstand und Lebensqualität anderer. Der «Preis» ist übrigens durchaus auch ganz wörtlich zu verstehen. Wollen wir etwa die Abstandsregeln noch monatelang einhalten, können Restaurants und Bars, aber auch Konzertlokale, Theater, Kinos usw. nur noch einen Bruchteil der Plätze anbieten. Die Preise für Speisen, Getränke und Eintrittsbillette müssen dann massiv steigen, oder die meisten Lokale gehen bankrott.

Wie hoch darf der Preis nun sein? Darauf gibt es keine richtige oder falsche Antwort; die Gesellschaft muss sich entscheiden, auf wieviel Wohlstand und Lebensqualität sie verzichten will, um die Sterberate bei Pandemien mehr oder weniger tief zu halten.

Dieser Text erschien am 29. Mai 2020 im P.S., www.pszeitung.ch.