Der Zug, in den ich mich letzten Samstag in Winterthur setzte, kam aus München. Im Abteil neben mir unterhielt sich eine Familie in einer osteuropäischen Sprache, als ein Mann mit einer gelben Weste durch den Zug ging und sie auf Englisch fragte, ob sie aus der Ukraine kämen. «Es gibt einen Welcome-Service beim Zürcher Hauptbahnhof», informierte er sie. Das ist super, aber noch mehr super wäre es, wenn es diesen Welcome-Service auch für libysche, syrische oder afghanische Flüchtlinge gäbe. Die grosse Solidaritätswelle derzeit zeigt mithin auch auf, wie wenig Solidarität wir Menschen aus anderen Teilen der Welt entgegenbringen. Leute, die vor Kurzem noch applaudierten, als man Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken liess, sonnen sich jetzt in einem wohltäterischen Habitus – das ist anscheinend kein Widerspruch.
Um die CO2-Emissionen zu reduzieren, subventionieren viele Kantone Elektroautos mit Steuergeldern. Dabei wird oft kein Unterschied gemacht zwischen leichten und schweren Fahrzeugen. Die gekauften Autos werden aber im Durchschnitt jedes Jahr schwerer, im europäischen Vergleich fahren Schweizer:innen die schwersten Autos überhaupt, und schwerere Autos verbrauchen nun mal mehr Energie, auch wenn sie elektrisch angetrieben werden. Nun zeichnet sich eine zukünftige Stromlücke ab, zur Sicherung der Stromversorgung sollen Gaskraftwerke gebaut werden. Elektroautos subventionieren und dann Gaskraftwerke bauen, um den nötigen Strom dafür zu erzeugen – auch das ist anscheinend kein Widerspruch.
Die Stromlücke treibt auch die SVP um, diese fordert die Einsetzung eines «Strom-Generals». Sein Auftrag: die Energiewende rückgängig machen, die CO2-Reduktionsziele aussetzen und jene Kantone und Städte bestrafen, die «mit ihrer verantwortungslosen Energiepolitik die Versorgungssicherheit gefährden». Hübsch ist ja schon, dass diese Partei sich jetzt als Hüterin der Versorgungssicherheit profilieren will, nachdem sie seit jeher jedes Energiesparvorhaben bekämpft und die Freiheit, immer grössere Autos zu fahren, über alles stellt. Aber damit nicht genug: Es ist auch die Partei, die sich die «Unabhängigkeit» auf die Fahnen geschrieben hat. Ihre Vorstellung von einer «sicheren inländischen Energieversorgung» jedoch führt uns noch tiefer in die Abhängigkeit von den Putins, al-Sauds und Xis dieser Welt, die das Öl, Gas und Uran liefern – auch das ist anscheinend kein Widerspruch.
Wir befinden uns in einem Kampf der Werte, sagen dieser Tage viele Kommentator:innen, in einem Widerstreit zwischen dem freiheitlich-demokratischen und dem autoritären Wertesystem. Gerade frage ich mich, ob nicht auch in «freiheitlich-demokratisch» ein Widerspruch steckt. Ist mit «Freiheit» die Freiheit gemeint, über Welcome-Service oder Absaufen zu entscheiden, die Freiheit, subventionierte SUVs zu fahren, die Freiheit, Öl bei den Saudis, Gas bei den Russen und Uran bei den Chinesen zu kaufen? Freiheit ohne Rücksicht auf andere ist nichts als das Recht des Stärkeren; sie endet, konsequent weiter gedacht, in Verhältnissen wie in Russland oder China, wo Wenige alle Macht auf sich konzentrieren.
Ein so verstandener, egoistischer Freiheitsbegriff desavouiert das, was wir für westliche Werte halten; «freiheitlich» wird zur Vorstufe von «autoritär». Und «freiheitlich-demokratisch» zum Widerspruch in sich.
Dieser Text erschien am 25. März 2022 im P.S., www.pszeitung.ch.