Diensthund Tasso geht in Pension

Metzgermeister Müller entkorkte eine Flasche seines besten Rotweins und setzte sich vor den dampfenden Teller. Er ließ den edlen Tropfen ins Glas perlen und prostete sich zu. Dann griff er einmal mehr nach dem Stapel mit den Zeitungsausschnitten.

Der jüngste Artikel stammte aus dem «Anzeiger» von gestern. Unter der Überschrift «Diensthund Tasso geht in Pension» zeigte ein Bild Müller mit einem Schäferhund. «Nach dem tragischen Unfalltod», las Müller und schmatzte, «Nach dem tragischen Unfalltod des Kantonspolizisten Hans Meierhans (wir berichteten in der Ausgabe vom Montag) geht sein Diensthund Tasso von Hasselhof in Pension. Nach Auskunft von Hauptmann Heiri Hofer ist Tasso zu alt, um sich noch an einen neuen Hundeführer zu gewöhnen. ‹Der Tasso und der Housi, das waren halt Partner, so etwas kann man nicht so einfach ersetzen›, so Hofer.»

Müller nahm noch einen Schluck von dem Wein und übersprang einen Teil des Artikels. Er kannte ihn auswendig: eine Laudatio, auf die sogar James Bond stolz gewesen wäre, ein unglaubliches Geschwafel über die halbe Seite hinweg. Jeder Ladendieb, den Tasso irgendwann mal angebellt hatte, wurde wieder aufgewärmt.

Müllers Augen sprangen auf den letzten Abschnitt und verzogen sich zu einem Grinsen. «Sein Rentnerdasein», stand da – «Rentnerdasein», so ein Schwachsinn, dachte Müller. Er hatte das Vokabular der Lokaljournalisten so ziemlich auf der Latte, seit er im Knast die «Zeit» gelesen hatte. «Sein Rentnerdasein wird Tasso bei einem ehemaligen ‹Kunden› verbringen. Max Müller aus Hundelfingen hat angeboten, den pensionierten ‹Kommissar Rex› zu sich zu nehmen. 1987 hatte Tasso den damaligen Metzgermeister nach einer Verfolgungsjagd im Hundelfinger Forst gestellt. Müller wurde vorgeworfen, seinen Lehrling mit einem Fleischermesser erstochen zu haben. Er wurde daraufhin wegen Totschlags zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Seit einem Jahr ist er wieder auf freiem Fuß. Müller, der seine Schuld noch immer bestreitet, hegt keinen Groll gegen den Hund, der ihn bezwang. ‹Tasso hat nur seine Pflicht getan›, sagte Müller. Eine edle Einstellung, die man von einem verurteilten Verbrecher nicht erwarten würde.»

Müllers Grinsen wurde noch breiter, er schlürfte genüsslich von dem Roten. Ein wirklich edler Tropfen. Dem Anlass angemessen.

Der nächste Zeitungsausschnitt war vom Montag. Eine kurze Notiz unter dem Titel «Kantonspolizist tödlich verunfallt». Müller kannte auch diesen Artikel auswendig. «Hans Meierhans, Gefreiter der Kantonspolizei, wurde am frühen Sonntagmorgen mit schweren Verletzungen aufgefunden, denen er auf dem Weg ins Spital erlag. Wahrscheinlich ist er auf dem vereisten Trottoir ausgeglitten und mit dem Kopf unglücklich auf dem Trottoirrand aufgeschlagen; allfällige Zeugen werden gebeten, sich bei der Kantonspolizei zu melden. Nach Angaben von Nachbarn holte sich Meierhans jeden Sonntagmorgen am Automaten den ‹Sonntags-Anzeiger›. Meierhans war nicht verheiratet, er hinterlässt aber seinen Hund, Diensthund Tasso von Hasselhof. Tassos Zukunft ist noch ungewiss.»

Metzgermeister Müller grunzte vergnügt und schob sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund. Das Essen war schon fast kalt, es kümmerte ihn nicht. Er blätterte in seinen Zeitungsausschnitten herum. «Diensthund Tasso von Hasselhof stellt Kiosk-Einbrecher.» «Hundelfinger ‹Kommissar Rex›: Ein Tag im Leben von Polizeihund Tasso.» «Diensthund Tasso schlichtet Ehestreit.» «Polizeihund von Drogensüchtigem gebissen.» Und so weiter.

Zuunterst, vergilbt, die eigene Geschichte. «Metzgerlehrling aus Hundelfingen tot aufgefunden – Lehrmeister unter Verdacht.» Müller grinste nicht mehr. «Hundelfinger Killer-Metzger von Polizeihund auf der Flucht gestellt.» «Hundelfinger Metzger-Mord: Ist die Flucht ein Schuldbekenntnis?» «Diensthund Tasso: So stellte ich den Metzger. Eine unglaubliche Verfolgungsjagd.»

Metzgermeister Müller seufzte. Er schnitt sich ein großes Stück von dem erkalteten Kotelett ab. Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück. «Jaja, Tasso», murmelte er mit vollem Mund und kaute genüsslich, «Jaja, Tasso, bist ein zäher Hund, du».

Dieser Kurzkrimi erschien erstmals im «Magazin» Nr. 34/1996 des «Tages-Anzeigers».