Schwarze Fahnen

Ich bin von der Generation, die in den 80er-Jahren erwachsen wurde. Damals reichte es noch, sich gegen den Bau einer Autobahn oder eines Parkhauses zu engagieren, um von den Bürgerlichen, die sich für wohlanständig hielten, als Nestbeschmutzer und Staatsfeind beschimpft zu werden. Wir wollten aus dem Staat Gurkensalat machen, schwangen schwarze Fahnen, und die Wohlanständigen waren hübsch schockiert darüber.

Vor gut neun Jahren, einen Monat nach dem Amtsantritt Hans-Ulrich Biglers als Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), zügelte ich aus der Stadt ins Dorf. Damals fand ich es eine gute Idee, quasi zu Integrationszwecken, dem lokalen Gewerbeverein beizutreten – ich war ja eine Einzelfirma. Ausserdem würde vielleicht der eine oder andere Auftrag rausspringen? Es sprang aber nur die Zusendung von Verbandszeitungen raus, die ich zu Beginn mit einem gewissen Interesse auf dem Klo durchblätterte. Ich lernte darin, grob zusammengefasst, dass der Staat der Feind des Gewerbes sei. Dies wunderte mich weniger als die selbstgerechte Gehässigkeit im Ton, und so gab ich nach kurzer Zeit wieder meinen Austritt, ohne je an einer Veranstaltung des Vereins teilgenommen zu haben.

Seither hat sich der SGV sowohl im Inhalt wie auch im Ton noch weiter radikalisiert und führt eine Art Dschihad gegen alles, was irgendwie nach Staat riecht. So sind Biglers Äusserungen zur «NoBillag»-Initiative keineswegs verwunderlich. Was mich aber überrascht ist, dass die gegen 300’000 Unternehmen, die der SGV nach eigenen Angaben vertreten will, nicht aufmucken und dem Herrn brav als Basis und Legitimation dienen. Eine Politik der verbrannten Erde, von Abbau und Polarisierung, nützt möglicherweise den Finanzmärkten und den globalen Konzernen, aber wohl kaum den KMU, die von Investitionen, sozialem Ausgleich und einer finanziell gutsituierten KonsumentInnenbasis profitieren würden.

Der SGV inszeniert sich also, gemeinsam mit der FDP, als Speerspitze des Kapitals gegen den Staat. So weit, so schlecht. Noch grotesker aber ist die Verbrüderung des Kapitals mit den Rechtspopulisten, die sich ihrerseits als Speerspitze des «Volkes» gegen den Staat inszenieren. Grotesk ganz besonders in der Schweiz: Anders als etwa in Deutschland oder Frankreich gab es hier ja nie ein «Volk» mit einer einheitlichen Sprache und Kultur. Die Schweiz als «Willensnation» definiert sich rein über den gemeinsamen Staat mit seinen Institutionen. Wer in der Schweiz den Staat abbaut, baut damit auch das Volk ab, müsste man meinen.

Es ist eine verkehrte Welt, ich komme nicht mehr draus. Wir Linken haben vor 30 Jahren den Staat lediglich als Machtinstrument der Elite kritisiert, grundsätzlich in Frage gestellt haben ihn nur wenige. Trotzdem wurden wir von den Bürgerlichen dafür richtiggehend dämonisiert. Heute aber haben die «Bürgerlichen» (geblieben ist nur der Begriff) meine damaligen Anarcho-Kumpels mit den schwarzen Fahnen längst überholt, und ihr Kampf gilt nicht der staatlichen Willkür, sondern der Demokratie. Obwohl sich die Biglers, Gössis und Röstis noch immer erfolgreich als wohlanständig inszenieren, so sind sie doch wesentlich radikaler als wir es je hätten sein können. Und gefährlicher, denn sie haben sehr viel Geld und Macht, und nicht nur schwarze Fahnen.