Die Audienz

Das Leben wird schnell kompliziert, wenn sich die Gemahlin an der rechten Hand verletzt. Sie kann nicht kochen, waschen, die Kolumne nicht schreiben: der Mann muss ran. Nun stellen Sie sich vielleicht vor, dies sei eine seltene Chance, aus dem Schatten seiner Frau ins Rampenlicht zu treten – heute ist es ja wieder modern zu glauben, der Mann müsse ein rechter Mann sein, und der Platz im Schatten seiner Frau ihm zuwider. Aber ich kann Ihnen versichern: Im Schatten meiner Frau lebt es sich durchaus angenehm. So will ich denn nun aber trotzdem in den grünen Apfel beissen und mich bei der P.S.-Redaktion zum Briefing melden.

Es ist ein langer und beschwerlicher Weg von unserer abgeschiedenen, alpgleichen Behausung zu den heiligen Redaktionshallen. Frühmorgens der steile Abstieg von den Höhen der Albiskette hinunter zum Langnauer Hauptbahnhof, dann die unendlich scheinende Fahrt in pfeilschnellen roten Zügen ins Herz der Grossstadt. Wer sich in den Katakomben des Bahnhofs Selnau nicht verirrt, findet die Rolltreppe, die ihn zusammen mit einer unüberschaubaren Menge von PendlerInnen allmählich zur Oberfläche bringt wie Kumpel, die nach einem langen Tag im Bergwerk das Tageslicht ersehnen. Ich gehe zu Fuss, das Redaktionsgebäude ist ja unübersehbar, von weitem leuchten einem die meterhohen Buchstaben «P.S.» auf dem Dach den Weg. Ein Schauer fährt mir über den Rücken, als ich vor dem imposanten, von Rodin gestalteten gusseisernen Doppeltor stehe, das sich wie von Geisterhand langsam öffnet.

Ich betrete die riesige Eingangshalle. Ringsum führen unendlich scheinende Gänge in die Tiefen des Gebäudes, ab und zu hallt der Trittschall einer flinken Journalistin, eines beflissenen Praktikanten durch die Leere. In der Mitte der Halle finde ich die Empfangstheke, hinter der mir ein freundlicher Receptionist einen Espresso serviert, mit 91 Grad heissem Wasser und 9 Bar Druck in einer Durchlaufzeit von exakt 24 Sekunden zubereitet. Ehrerbietig warte ich, ob ich eine Audienz bekäme. Von weitem erhasche ich einen Blick auf Frau Soland, gefolgt von zwei Bundesrätinnen. Nach einer Stunde werde ich in den 18. Stock vorgelassen, wo mich eine weitere Empfangsdame empfängt. Ich darf in einem Sessel Platz nehmen und für die kommenden Stunden mitverfolgen, wie ein Heer von hochdekorierten JournalistInnen geschäftig von Zimmer zu Zimmer wuselt, andere wandeln in kleinen Gruppen durch die Gänge und besprechen die Artikel, die morgen die Welt verändern werden.

Schliesslich darf ich in Herrn Löpfes Büro! Auf einem knöcheltiefen Perserteppich stehend, betrachte ich mächtige Mahagoni-Schreibtische, auf einem steht der neuste Macintosh mit schwebendem Bildschirm, auf der Vorderseite eine handschriftliche Widmung von Steve Jobs. Ich warte in einem ziegenhodenledernen Sessel und studiere die barocken Ölgemälde an den Wänden. Aus einem Nebenzimmer höre ich bruchstückhaft die frohe, aus Funk und Fernsehen bekannte Stimme des P.S.-Kulturchefs, wie er einem Herrn Tarantino seinen neusten Film erklärt.

Draussen ist es dunkel, als sich die Tür öffnet. Die Empfangsdame schaut herein, um das Licht zu löschen, da wird sie meiner gewahr. «Ah, Sie sind ja noch da! Herr Löpfe ist in einer Besprechung, er lässt ausrichten, Sie sollen doch einfach etwas schreiben. Oder fragen Sie Ihre Frau.»

Dieser Text erschien am 28. Februar 2013 im P.S., www.pszeitung.ch.